Eine kleine Übung

 In meiner Abhandlung gibt es viele Bilder (Fotografien und Skizzen). Sie sind nur Mittel, den Leser an Bild-Inhalte heranzuführen. Die Wirklichkeit liefern solche Bilder nicht. Sie geben dem Leser nur die Möglichkeit, durch Eigen-Beobachtung den Schlüssel zu verborgenen Inhalten zu finden. Den Erkenntnis-Akt kann nur jeder selbst vollziehen, der kann nicht «mitgeliefert» werden. Deshalb möchte ich hier eine kleine Übung einfügen.

Man betrachte das Bild hier unten. Wenn ich sage: "man sieht hier einen Granat (Almandin), der schön rot glänzend und der die Form eines Rhombendodekaeders hat", dann wäre es ein Bildchen mit einer Etikettenunterschrift. Man nimmt es zur Kenntnis und meint es «gesehen» zu haben. Bilder mit Unterschriften dieser Art sind schlichtweg illusorisch. Warum? Weil man sich mit dem Inhalt gar nicht verbunden hat. Wer vermeint auf dem Bild einen Raumkörper zu erkennen, der muss sich bewusst sein: dieses Bild ist zweidimensional und die abgewandte Seite des vermeinten Körpers ist gar nicht zu sehen.

Als ich den Granat zum ersten Mal beobachtete, musste ich ihn drehen und wenden. Dann zählte ich die Flächen, die das Volumen eingrenzten. Alle Flächen waren Rhomben-förmig. Es gibt deren 12 und sie «passten» alle zusammen, ohne Unterbruch. Ich kam zum Schluss: Dieses Gebilde ist ein «Zwölfflächner» und somit darf ich es ein Dodekaeder nennen und weil die Flächen alle Rhomben förmig sind, ist der Ausdruck «Rhombendodekaeder» zutreffend.

Ist das schon alles? Keineswegs!

Ich untersuchte den Raumkörper weiter und konnte ihm ein weiteres verborgenes Geheimnis entlocken:

Als ich die hell-aufleuchtende Kante (siehe oberes Bild) nach oben verfolgte, bis zur Spitze hin, dann wurde diese Kristallspitze durch drei Rhomben-förmige Flächen gebildet. Verfolgte ich dieselbe Kante nach unten, dann kam ich zu einer Kristallspitze, die aus vier Rhomben-förmige Flächen geformt war. Beobachtete ich darauf alle Kanten, da stellte ich fest, dass diese einzelne Beobachtung für alle Kanten gilt. Für alle 24 Kanten und alle 14 Spitzen gilt diese rhythmische Abwechslung wie ein Gesetz. Zusammenfassend kann ich sagen: An sechs der Kristallspitzen grenzen vier Kanten (oder Flächen) und an acht der Kristallspitzen grenzen drei Kanten (oder Flächen).

Was habe ich bis hierher gemacht?

Alles, was ich zu diesem Bilde sagte, war kein willkürliches «Geschwätz», sondern eine klare Betätigung meines Denkens, die jeder, der diese Schilderung gefolgt hat, mitvollziehen und bestätigen kann. Alles, was zum Bild gesagt wurde, entstammte nicht dem Bild, sondern der denkenden Betrachtung des Bildes.

Bestimmte Intuitionen (Begriffe) meines Gedankensystems verbanden sich mit der Wahrnehmung (Objekt) und zwar auf die Weise, dass sie nach dem Erkenntnisakt verknüpft geblieben sind. Begriffe sind universelle Wesen, die durch die denkende Tätigkeit individualisiert werden. Vereinigt mit dem Objekt verbleiben sie als meine Vorstellung des Objektes (als ein individualisierter Begriff).

Meine erste Denkanstrengung zum Granat betrafen: die Flächenanzahl, die Form der Flächen, die Kantenverläufe und Kristallspitzbildungen. Erst wenn ich auf diesem Wege alle Aspekte zum Granat aktualisiere, kann ich hoffen, den wirklichen Begriff des Granats (das universelle Wesen) zu fassen.

Ich müsste vieles mehr ausführen (die Winkelbezüge, die Flächenlagen, die Zahlenverhältnisse, die Zusammensetzung der Substanz, die Entstehungsweise, das Vorkommen, die Bedeutung des Granats in der Geschichte usw.) bis ich zu der wirklichen Bedeutung des Wesens Granat vorstossen kann.


Wer angeregt durch meine Ausführung die Gestalt des Granats (Rhombendodekaeder) besser verstehen will, kann anhand des unterstehenden Bildes zu einer klareren Vorstellung dieses Raumkörpers gelangen. Hier habe ich ein Rhombendodekaeder aus Eichenholzfurnier gemacht. Alle Ansichten sind verschieden und doch ist alles der gleiche Körper.

Schlussfolgerung: Eine Wandlung des Stein-Erlebens vollzieht sich nicht ohne sich einer vertieften Auseinandersetzung zu stellen.